Roman trat Ende März 2020, mit 32 Jahren, in eine Aussenwohngruppe von Dialogos ein. 2018 verlor er seinen letzten Job als Gerüstbauer und lebte von der Sozialhilfe. Infolge anhaltender Gefährdung und Überforderungen im Alltag, kam es zu mehreren stationären Aufenthalten in der Psychiatrie. Eine betreute Wohnform wurde bereits im September 2019 dringend empfohlen. Beim Vorstellungsgespräch erwähnte Roman, dass er versagt habe und seinen Beitrag in der Gesellschaft nicht geleistet habe. Seine Niedergeschlagenheit und seine seelische Not standen im Vordergrund. Nun hoffe er auf eine neue Chance. Ich  erinnere mich, dass Roman sich im Vorfeld mehrmals gründlich über alles informierte. Er wollte die Regeln verstehen und Informationen
über Dialogos und sein neues Umfeld erfahren.

Roman war sofort bereit, beim Jahresbericht zum Thema Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, nachfolgend ADHS genannt, mitzuwirken. ADHS ist eine meist im Kindesalter auftretende Entwicklungsstörung, welche die Symptome Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität und Impulsivität umfasst. Die Bandbreite der Symptome ist gross und zeigt sich unterschiedlich.

Auf meine Einstiegsfrage, wie sich seine Diagnose auf sein Leben auswirkt, steigt Roman mit dem Lebensabschnitt der Grundschule ein. Er erwähnt vorab, dass er gehört habe, dass Depressionen eine der häufigsten Folgen einer ADHS seien. Da er Medikamente einnehme, die als Betäubungsmittel zugelassen sind, werde er als Süchtiger abgestempelt, das beschäftige ihn ebenfalls. Danach schildert er: «Ich komme aus einer liebevollen Familie und habe einen Bruder. Erst als ich in die Grundschule kam, bin ich nicht mehr klargekommen. Ich war impulsiv und erntete viel Kritik. Ich wurde von Gruppen ausgeschlossen und war dadurch sehr verletzt. Es wurde mir erklärt, dass ich nerve. Ich wusste nicht, was damit gemeint ist und dachte einfach, man mag mich nicht. Ich fühlte mich abgelehnt. In der Schule musste der Lehrer oft eingreifen. Auf Kritik reagierte ich seltsam und wollte dann lustig sein – weil ich mich schämte. So wurde ich zum «Clown» und überspielte meine Gefühle. Es war eine Strategie, damit man mich in Ruhe liess. Ich musste schnell lernen, wie andere fühlen und denken und versuchte mich anzupassen, mich nicht mehr wahrzunehmen, bis hin zur Selbstaufgabe.

So sehr ich mich auch bemühte, die Angst vor Bewertung und Kritik wurde mein stetiger Begleiter. So lehnte ich mich selbst immer mehr ab und erzählte auch zu Hause nichts mehr. Ich kam in die Oberstufe und in die Pubertätsjahre. Der Wunsch nach einer Beziehung war gross: Persönlich konnte ich mich nicht entwickeln, und war damit beschäftigt, Lügen zu erfinden, um mein Versagen zu verbergen. Von den Kollegen wurde ich nicht nur gehänselt, sondern in der Oberstufe Opfer von Gewalt und von traumatischen Ereignissen. Während dieser Jahre wurden Fachleute und die IV involviert. Von meinen demütigenden Erfahrungen teilte ich nichts mit, ich hielt sie fast 20 Jahre unter Verschluss. Natürlich frage ich mich, wieviel Einfluss diese Erfahrungen auf meinen Werdegang hatten. Nach der Schule konnte ich eine Lehre beginnen, die ich abgebrochen habe, auch eine
zweite Lehre scheiterte. Anfangs hatte ich immer grosses Interesse und die Lehrer freuten sich über meine Fragen. Ich wollte alles ganz genau wissen, am liebsten bis zum Urknall. Ich wollte wissen, was Metall ist, was ist das Gefüge, weshalb ist es flüssig
usw. Da ich es mir nicht merken konnte, wurde es mit der Zeit langweilig. Mein Fokus war vielmehr auf den Menschen.
Ich versuchte sie zu «scannen», um zu lesen, wie ich mich möglichst korrekt verhalten konnte. Wichtig war, sozial zu überleben und die Erwartungen zu erfüllen. Ich brauchte immer externe Rückmeldungen zu den Schulnoten und zu meinem Verhalten. Da ich alles dann mache, wenn es mir einfällt und weil ich von laufend neuen Impulsen gelenkt werde, konnte ich mich nicht fokussieren, was sich auf die Arbeitsqualität auswirkte. Dass ich für andere nicht nachvollziehbar bin, wusste ich nicht. Die Langeweile und andere gegenwärtige Bedürfnisse und Impulse führte zu Absenzen, zu Ausreden und zu den Lügengeschichten. Ich
wusste, wann ich log und versuchte damit, etwas darzustellen und andere zu beeindrucken. Ich wollte zeigen, dass ich etwas
kann. Die Geschichten konnte ich verfeinern und durch meine Fantasiewelt ergänzen.
So konnte ich andere in meine Wahrnehmung hineinnehmen, mit der Wahrheit war das nicht möglich. Ich trainierte sogar meine Mimik und Gestik und die Wahrheit verwässerte immer mehr. Natürlich hatte ich Angst vor Konsequenzen und hoffte, dass es nicht rauskommt.

Die dritte Lehre startete ich mit der IV im Brüggli und erhielt erstmals Ritalin. Dadurch wurde das Gefühl der Sinnlosigkeit gemildert. Ich erinnere mich noch an die erste Medikamenteneinnahme. Es war, als würde ich in einen Tunnel eintauchen, ich konnte mich plötzlich sehr gut fokussieren und entwickelte wieder Interesse. Ich erinnere mich, dass ich es
liebte, zu feilen und Kanten zu brechen. Dies konnte ich dann plötzlich stundenlang tun. Ob ich dadurch besser akzeptiert
wurde, weiss ich nicht mehr. Die Ausbildung als Mechatroniker konnte ich beenden, habe jedoch nie auf dem Beruf
gearbeitet. Wenn ich an einem Ort mit einem Job begann lief es die ersten Wochen gut und ich war höflich und fleissig.
Sobald es persönlicher wurde, erlebte ich die altbekannten Ängste.»