Chris ist 35 Jahre alt. Er trat im April 2013 ein zweites Mal ins Dialogos ein, nachdem er eineinhalb Jahre alleine wohnte und zuvor bereits drei Jahre im Wohnheim in Stettfurt gelebt hatte. Schon vor einigen Jahren fragte ich ihn, ob er bereit wäre, seine Geschichte zu erzählen. Dies kam jedoch damals nicht in Frage für ihn. Nun habe er jedoch in den vergangenen Jahren beobachtet, wie der Umgang mit den Interviews sei und dass er sich einen anderen Namen wählen dürfe. So sei er nun bereit, einen Einblick zu geben. Chris erzählt mir, dass er viel von seiner Lebensgeschichte seiner broken home Kindheit zuschreibe. In den ersten acht Lebensjahren habe er so viele Vertrauensmissbräuche und traumatische Erfahrungen erlebt, dass es für ein ganzes Leben reiche. Seine Mutter hätte aus erster Ehe eine Tochter und er habe somit eine ältere Halbschwester. Leider habe er wenig Kontakt zu ihr. Seine Mutter habe rund acht Jahre mit seinem Vater zusammengelebt. Sein Vater habe viel getrunken und es sei zur häuslichen Gewalt gegen seine Mutter gekommen. Dies hätte tiefe Spuren und Bilder in ihm hinterlassen. «Ich habe keine Zuverlässigkeit erlebt, wohl aber viele Versprechungen, das hat mich verunsichert und geprägt. Ich brauche sehr viel Zeit, um Vertrauen aufzubauen.» Chis erzählt, dass seine Mutter auch nach der Trennung eine undankbare Rolle gehabt hätte. Sie habe versucht zu vermitteln, doch er habe nur wenige Wochenenden bei seinem Vater verbracht. Diese Beziehung könne man mit einer Art «Hassliebe» beschreiben und es sei für ihn ein langer Weg gewesen im Umgang mit dieser Ohnmacht. Seine schlechten Gefühle hätten wiederum schulisch negative Auswirkungen gezeigt und er habe früh angefangen mit Kiffen. Die Mutter habe sich Mühe gegeben, sei jedoch durch die zunehmenden Belastungen in der Beziehung mit ihm müde geworden. Die Schule habe er beendet. Der Versuch, mit Cannabiskonsum seine Traumata zu behandeln sei nicht gelungen. Er habe eine Lehre begonnen als Elektromonteur, aber es sei ihm schon damals sehr schlecht gegangen und es habe nach kurzer Zeit zum Abbruch geführt. Als Folge lebte er während zwei Jahren auf einem Bauernhof in Südfrankreich, wo er betreut wurde. Danach begann er seine zweite Lehre als Goldschmid. Diesmal konnte er die Ausbildung trotz schulischer Schwierigkeiten erfolgreich abschließen. Auch Gemmologie (Edelsteinkunde) habe ihn interessiert. Er habe noch zwei Jahre beim Lehrbetrieb gearbeitet, das Kiffen hätte er während der Lehre und auch danach fortgesetzt. Entgleist sei seine Situation jedoch erst, nach weiteren Anstellungen, bei denen die klare Aufgabenstellung gefehlt habe. Er habe Schikanen erlebt und sei ausgenützt worden als junge, günstige Arbeitskraft. Mitten im Tagesgeschäft habe die Vorgesetzte verlangt, dass er ihre Katzen füttern solle, das WC reinigen oder das Auto umparken.

Nach einem Wechsel habe er als letzte berufliche Tätigkeit im Industriegebiet eine Stelle angenommen. Er sei in der Annahme hingegangen, medizinaltechnische Geräte zu warten. Er sei dann jedoch in der Wehrtechnik gelandet und hätte militärische Nachtsichtgeräte hergestellt und Chips für Raketenwerfer. Zu spät habe er realisiert, was dies bedeute und er habe sich schmutzig gefühlt, zumal zur gleichen Zeit in den Medien täglich über den Irakkrieg berichtet wurde. Sowohl der psychische als auch der finanzielle Druck hätten stetig zugenommen. Er habe es noch knapp geschafft, seine Kündigung einzureichen. Danach sei er zunehmend psychotisch geworden, habe unter Verfolgungswahn gelitten, alles auf sich bezogen und sei so in die Klinik eingewiesen worden. Seine existentiellen Ängste zum Thema Krankheit und Tod, seien schwer zu beschreiben, aber kaum aushaltbar gewesen. Seither nehme er die gleichen Medikamente ohne Unterbruch. M

it 26 Jahren trat Chris 2009 ins Dialogos ein. Er habe langsam Vertrauen gefasst und gespürt, dass man es gut mit ihm meine. Er habe viele Gespräche beansprucht und auch die psychologische Betreuung sei sehr wichtig gewesen. Was ihm aber am allermeisten bedeute, seien die Freundschaften unter den Bewohnern, die er aufgebaut habe. 2011 wagte er einen Austritt in eine eigene Wohnung. Nach eineinhalb Jahren ist er wieder ins Dialogos eingetreten, da es alleine nicht gut gegangen ist.
Seither habe er viel erreicht. Chris betont, dass er von der Ruhe profitiere und lerne sein Leben zu akzeptieren. «Sehr früh musste ich mich mit meinen Grenzen auseinandersetzen.» Nach fast zehn Jahren Unterbruch, hat er sich vor einem Jahr wieder zugetraut mit einem kleinen Pensum einer Arbeit nachzugehen. Ganz besonders schätze er auch die Ferienangebote von Dialogos, auch hier lerne man sich besser kennen.

Zum Thema «Gemeinsam statt einsam» habe er lange gar nicht gewusst, wie sehr er Kontakte und Gemeinschaft brauche. Er habe lange isoliert gelebt und wohl gewusst, dass ihm etwas fehle, aber nicht was ihm fehle. Die Beziehung zu seiner Mutter habe sich erfreulich entwickelt, mittlerweile gibt es wieder Besuche oder Telefongespräche. Auf die Frage, was ihm am wichtigsten sei, meint Chris: «Es geht darum, aufrichtige Beziehungen zu leben und keine Drogenkontakte. Heute pflege ich Freundschaften und erlebe Zusammenhalt und gegenseitiges Verständnis. Wir besuchen einander. Ich habe keine weiteren Klinikaufenthalte benötigt und erlebe mich seit meinem zweiten Eintritt vor fünf Jahren psychisch stabil».