Edita kam mit 17 Jahren ins Dialogos. Im Februar wurde sie 30 Jahre alt. Ich durftre sie einige Jahre nach eem Austritt besuchen. Edita erinnert sich an ihre Siuation. Damals sei die Ausbildung gescheitert und sie hätte nicht mehr bei der Adoptivmutter wohnen können. Die Umstände waren schwierig und eine enge Zusammenarbeit mit dem Beistand und der Therapeutin waren
wichtig. Edita verlor beide Eltern bei einem Unfall. Sie ist ursprünglich aus
Kroatien und wurde von ihren Geschwistern damals getrennt. Auf meine Anfrage, ob ich sie besuchen dürfe, reagiert sie spontan und offen. Edita lebt seit dem Dialogosaustritt mit ihrem Partner in einem freundlichen Reiheneinfamilienhaus und begrüsst mich mit einem selbst gebackenen Herz-Erdbeerkuchen. Blühende und schlummernde Orchideen schmücken die Fenster. Auf die Frage, an was sich Edita erinnert, wenn sie an ihre Dialogoszeit zurückdenkt, erzählt sie folgendes:
«Als ich zum Vorgespräch kam, da wusste ich nicht, was mich erwartet, ich fragte mich, was dies für ein Ort ist. Eine Drogenhöhle oder so? Meine Zimmerkollegin meinte jedoch, ich solle das vergessen, hier werden Drogentests gemacht, aber keine Drogen verteilt. Der Beistand liess
mir die Wahl zwischen der Heilsarmee, der psychiatrischen Klinik oder Dialogos. Da dachte ich, na ja, dann ist es wohl einen Versuch wert, ins Dialogos zu gehen. Ich bekam Unterstützung in der Zusammenarbeit mit dem Ausbildungsplatz, damals war ich in einer beruflichen Massnahme, die dann leider abgebrochen werden musste. Die geregelte Tagesstruktur war wichtig für mich. Nach dem Lehrabbruch konnte ich im Murghof arbeiten.
Die Gespräche mit meiner Bezugsperson haben mir sehr geholfen».
Weiter erzählt sie: «Es gab auch schwierige Situationen, z.B. als eine Mitbewohnerin sich verletzte und ich den Pikettdienst anrufen musste. Das
Telefon funktionierte erst nach mehreren Anläufen und die Wartezeit war schwierig. Ich bekam keine brauchbare Anweisung, was ich für meine Kollegin hätte tun können. Mein wichtigstes damaliges Ziel war, dass ich vor meinem 18. Geburtstag in eine Stadtwohnung übertreten konnte. Damals hatte Dialogos erst zwei Wohnungen gemietet. Als sich weder die Leitung noch die Bezugsperson im zeitlich erwünschten Rahmen festlegten,
packte ich meinen Koffer und stellte mich vor das Betreuungsbüro. Ich sagte, ich sei bereit und würde jetzt nach Frauenfeld umziehen. Endlich wurde ich ernst genommen. Wenn ich etwas sage, dann tue ich es auch. Eineinhalb Jahre später, veränderte sich die Situation in der AWG und
ich war zu oft alleine. Ich teilte dies dem Team mit und forderte mehr Betreuung ein. Ich erwähnte auch, dass ich wieder ins Wohnheim möchte. Leider war kein Zimmer frei. Spontan entschied ich mich, auszutreten und bei meinem Freund zu leben, den ich kurz zuvor kennenlernte. Ich erinnere mich, dass meine Bezugsperson mich suchte, ich wollte mich jedoch nicht melden. Später wurde mit dem Beistand eine Austrittsregelung vereinbart, diese empfand ich benachteiligend, da ich das Geld für die Wohnung mit dem Freund gebraucht hätte.»
Als Edita nach dem Austritt 2010 eine neue Beiständin bekam, habe sie ihr beim Erstgespräch gesagt, dass sie maximal ein Jahr mit ihr zusammenarbeiten werde, danach sei sie wieder ganz selbständig. Die Beiständin habe darauf sehr gut reagiert und sich intensiv engagiert für dieses Ziel. So habe sie bereits nach einem halben Jahr einen Antrag an die KESB zur Aufhebung der Beistandschaft gestellt und dieser wurde bewilligt. Im Jahr 2017 und 2018 prägten weitere Schicksalsschläge ihr junges Leben, als hätte sie nicht genug Verluste und Schweres erlebt. Edita wurde 2017 schwanger und freute sich auf die Geburt eines Töchterchens. Gegen Ende der Schwangerschaft kam es zu einem Unfall. Ein Autofahrer übersah Edita auf dem Fussgängerstreifen. Edita überlebte mit leichten Verletzungen, das Kindlein starb. Der Verlust prägte die folgenden Monate und das Paar wurde und wird durch die Therapeutin von Edita begleitet. Diese Frau sei sehr wichtig und sei schon zuständig gewesen in der Dialogoszeit. Einmal mehr bewies Edita Stärke und Entschlossenheit. Im 2018 erkrankte sie an einer schweren Epilepsie, deren Ursache nicht geklärt werden konnte. Sie wurde in die Psychiatrie eingewiesen, da unter anderem vermutet wurde, dass sie eine dissoziative Störung habe und daher eine Traumatherapie machen solle. Edita meinte, dieser Aufenthalt hätte ihr nicht geholfen, sie sei ausgetreten. Die epileptischen Anfälle hatten keine psychische Komponente wie vermutet. Die Epilepsieklinik empfahl eine Operation in Amerika, welche in der Schweiz nicht durchgeführt werden konnte. Edita reiste nach Los Angeles und unterzog sich einer 18-stündigen Operation, welche erfolgreich verlief. Ihr Partner habe sie begleitet und sie hätten danach das Schwere mit dem Guten verbunden, einer gemeinsamen Reise. Edita zeigt mir eine ganze Reihe von Fotobänden, ihre Augen leuchten, wenn sie an ihre Reisen durch Singapur, Indonesien, Ägypten und durch viele andere Länder denkt, sie erlaubt mir ein Foto von ihren Alben zu machen. Dies sei jedoch nicht ihre einzige Leidenschaft, sie backe sehr gerne und sie sei Gotti und Tagesmami von ihrem Göttibuben. Er übernachte jede Woche bei ihr und sie habe eine enge Beziehung zu ihm. Auch sie habe ein Gotti in Erinnerung, welches gegen Ende des Dialogosaufenthaltes schwer erkrankte und starb, die Schwester ihrer Adoptivmutter. Diese Frau sei für sie sehr wichtig gewesen. Edita könnte
noch viel erzählen, so arbeitet sie seit vielen Jahren 50% an einem geschützten Arbeitsplatz, führt den Haushalt und teilt ihre Zeit mit dem Göttibuben. Sie liebe Blumen und die Natur. Edita empfiehlt Dialogos bessere Regelungen für Notfälle und ein Zimmer im Wohnheim, falls dies für jemanden in der Stadtwohnung einmal wichtig sei. Sie weiss nicht, dass wir dies 2018 umgesetzt haben und mit einer Nachtwache arbeiten.
Während des Zuhörens gehen mir viele Gedanken durch den Kopf. Erneut lerne ich viel und überlege, wie anmassend doch «betreute Angebote» sein können, in dem die Betreuung sich vorstellt, was helfen würde und was ein Mensch dazu tun müsste… nein, ich wünschte, ich hätte Edita noch mehr vertraut und sie in ihren Zielen noch konsequenter unterstützt. Selten ist mir ein Mensch begegnet, mit einer so grossen Entschlossenheit und Überzeugungskraft. Einmal mehr gelange ich zur Überzeugung, dass der
Mensch leidvolle Erfahrungen umwandeln kann und die Perle seiner Persönlichkeit ans Licht kommt. Es ist harte Arbeit damit verbunden, sich mit dem Schicksal zu versöhnen und in keiner Weise mit Vorwürfen und Bitterkeit darauf zu antworten. Ich danke Edita, dass ich sie besuchen durfte und bin beschenkt durch diesen wertvollen Nachmittag in ihrer
Stube.
Christoph Grossglauser betreute Edita und erzählt von seinen Erinnerungen. «Bei Edita hat mich von Anfang an beeindruckt, welche Kraft sie hatte. Sie wurde in die Schweiz adoptiert nachdem ihre Eltern bei einem tragischen Unfall ums Leben kamen. So lernte sie in den Unterstufenjahren die Sprache, das war immer noch spürbar. Sie konnte mit Zuversicht und Optimismus schwierige Umstände bewältigen. Im Nachhinein glaube ich, dass ich sie unterschätzt habe. Edita war immer gut informiert. Als ihr Elternhaus im Heimatland verkauft wurde, konnte
sie sich trotz familiärer Verstrickungen, gemeinsam mit dem Beistand, für ihre Rechte einsetzen. Die Austrittssituation war schwierig und ich bedauerte, dass ich sie nicht erreichen konnte. Eine Klärung war wichtig und später auch möglich. Ja, Edita hat eine fröhliche Natur – sie bleibt
unermüdlich dran. Ich staune über ihr Leben».