Philippe trat im 2012 ins Dialogos ein, er erlebte alle Wohnformen und zog im 2016 in eine Einzelwohnung. Nun plant er seinen Austritt und meint:
«Ich hätte dies noch nicht gewagt, wenn mich nicht äussere Umstände zu dieser Entscheidung gedrängt hätten. Für mich ist dieser Abschied ein grosser Schritt, eine Tür, die ich öffne – eine Weiterentwicklung, die mit Unsicherheiten und Ängsten verbunden ist. Ich bin vorbereitet und habe mit der Wohnung ein neues Zuhause. Als Kind hat es keine Sicherheiten gegeben, alles war ungewiss, eine ständige Anspannung. Einmal ist mir eine Vase zerbrochen. Ich weinte den ganzen Nachmittag, da ich wusste, dass es Schläge geben würde, ich war machtlos. Das trat, wie befürchtet, ein – und mehrere von uns Kindern wurden «blutig» geschlagen. Eine andere Erinnerung ist die an mein «Jahrbuch» von der Schule. Ich hatte mir einen ganzen Tag Zeit genommen, um die Titelseite zu gestalten und legte das Buch auf die Treppe. Mein Stiefvater wollte, dass ich es versorge, was ich sofort tun wollte. Doch dann vergass ich es und ging unter die Dusche. Plötzlich stand er vor mir und schmetterte dieses Buch auf meinen nassen Leib und warf es in die Badewanne. Das war sehr traurig, denn die ganze Mühe war umsonst. Als meine Sozialarbeiterin, die sich für die Kostengutsprache im Dialogos über lange Zeit eingesetzt hatte, mitbekam, dass es mir nicht recht ist, Kosten zu verursachen, meinte sie, dass die Gesellschaft früher bei mir versagt hätte. Es gibt Opfer, die später zu Tätern werden, das ist bei mir nicht so. Es ist einfach eine ständige Angst und Verunsicherung, die sehr tief sitzt. Ich nehme sie bei neuen Kontakten wahr, wenn ich nicht weiss, wie jemand zu mir sein wird. Wenn mir jemand etwas zusagt, so traue ich dieser Situation lange nicht, da ich oft erlebt habe, dass es dann doch nicht verlässlich ist. Es ist mir bewusst, dass dies nichts mit dieser Person zu tun hat. Es war einfach ein permanenter Zustand, nicht zu wissen, woran man ist. Das macht vorsichtig und zurückhaltend.

Im Dialogos erlebte ich die stabilste Zeit seit 2004, als ich 23 war, das war ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter. Es gab Zeiten, da war ich über drei Jahre nicht in der Klinik und nahm noch nicht einmal Reservemedikamente, das hat mir sehr gut getan.

Der Austritt vom Dialogos wurde aus finanziellem Anlass nahegelegt, da die IV mehrmals Leistungen absagte, unter anderem auch, da das Berichtwesen durch meinen damaligen Arzt auch nach mehrmonatiger Aufforderung nicht stattgefunden hatte. Auch wenn ich erfolglos immer wieder zwischen dem Sozialamt und dem Psychiater vermitteln wollte. Ich habe weiterhin grossen Respekt vor Situationen, bei denen ich behördlichen Entscheiden ausgeliefert bin und mit unerwarteten Tatsachen umgehen muss. Der Ablösungsprozess entstand nicht auf eigenen Wunsch, ich kann es immer noch nicht ganz fassen. Ich werde noch lange brauchen, um den Abschied zu realisieren. Ich kann es akzeptieren, auch wenn ich es als Verlust empfinde. Es ist sicher nicht nur negativ. Ich konnte Vorwärtskommen und es erleichtert mir den Umgang mit dem Abschied, wenn ich an all das Erlebte und Gute denke. Die Zeit und mein Prozess haben mir geholfen, die Sicherheit in mir selbst zu finden, in meinen Gedanken, die ich mir über das Leben mache. Ich fotografiere die Natur, betrachte sie und finde sie wunderschön. In diesen Momenten fühle ich mich sicher. Dialogos war/ist für mich wie eine grosse Familie geworden. Ferien und Ausflüge waren wichtig für mich, da habe ich Leute getroffen, mit denen ich gerne zusammen bin. Ich habe es unter anderem genossen, gemeinsam am Hüttwilersee zu grillieren – so als hätte ich die Gelegenheit bekommen, in meinem späteren Leben ein bisschen Kindheit nachzuholen. Für meinen Abschied habe ich mir genau dies noch einmal gewünscht – aufgrund der Coronakrise wird es auf später verschoben – darauf freue ich mich.»