Wie Mirjam zwei Welten verbindet:
«Ich bin in meiner Welt mit den Stimmen und in der Welt mit meinen Mitmenschen». Mirjam war die dritte Klientin von Dialogos. Sie trat nach einem Klinikaufenthalt 2003, im Alter von 31 Jahren, ins Dialogos ein. Es war ihr erster Aufenthalt in einer Klinik. Damals wurde festgestellt, dass sie an Schizophrenie erkrankt war. Direkt mitgeteilt wurde ihr das nicht. Erst 15 Jahre später konnte sie sich damit auseinandersetzen.
Mirjam meint: «Ich habe das verdrängt, die Angst war zu gross auch wollte ich es nicht wahrhaben. Ich konnte mir in keiner Weise vorstellen, dass mir irgendjemand helfen kann.» Damals war wichtig, mit den damit verbundenen allgegenwärtigen Ängsten einen Umgang zu finden. Auch kämpfte sie darum, den Anschluss an ihre Fähigkeiten wie töpfern und andere kreative Tätigkeiten, nicht zu verlieren. Das «Richterhaus» war damals noch leer und das Team bestand nebst der Leitung aus vier Personen. Zwei davon arbeiten heute noch im Dialogos. Als gelernte Töpferin mit einem ausgesprochenen Sinn für Ästhetik und Schönheit, sind ihre Schöpfungen ansprechend, schlicht und modern. Mirjam arbeitete mit Steinzeug, einem edlen Material. Man beachte den kostbaren Goldblattrand und die genaue Verzierung der Kugel auf dem Foto. Als ich vor vielen Jahren bei einem Besuch bei ihren Eltern war, zeigten sie mir eine Kindergartenzeichnung von Mirjam. Darauf sah ich Kinder, die einen Reigen tanzen. Im Stillen fragte ich mich, ob ich überhaupt je fähig wäre, so ein Werk zu schaffen. Zwei Jahre nach dem Eintritt konnte Mirjam austreten und fünf Jahre wieder selbständig in einer eigenen Wohnung leben.
Als 2010 altbekannte Ängste, ein erneuter Verfolgungswahn, bedrohliche Stimmen, laute Geräusche, Düfte und taktile Halluzinationen mit spürbaren Schmerzen auflebten, war Mirjam auf einen weiteren Klinikaufenthalt angewiesen. Die psychotischen Inhalte und Erlebnisse bedrohten erneut all das, was sie sich aufgebaut hatte und ihre ganze Selbständigkeit.
Mirjam wünschte eine weitere Stabilisierungsphase im Dialogos und war sehr dankbar über eine erneute Aufnahme.
Den Gedanken, mit ihren Ängsten und ständigen Symptomen allein zu sein, ertrug sie nicht. Aus dieser Entscheidung wurde ein ganzer Lebensabschnitt eines gemeinsamen Weges. Er ist gekennzeichnet durch einen gegenseitig wertschätzenden und freundschaftlichen Umgang.
Eine Verbindung, die von Vertrauen und Zuneigung geprägt ist. Mirjam meint dazu: «Nach meinem zweiten Zusammenbruch hatte ich die Kraft nicht mehr, mich wieder selbständig zu orientieren. Ich könnte mich auch heute noch nicht jeden Tag selbständig verpflegen und einkaufen».
Mirjam ist heute 49 Jahre alt und es bedeutet mir sehr viel, dass ich mit Mirjam dieses Gespräch führen darf. Trotz aller Vorsicht ist mir bewusst, wieviel Kraft sie dieses Gespräch auch in besten Zeiten kosten wird. Immer wieder klären wir im Gespräch gemeinsam, wieviel vom Abgrund der Welt der Stimmen und Sinneswahrnehmungen aufgeschrieben werden darf. Mirjam betont konsequent, dass es ihr viel besser geht. Sie habe hart gekämpft und die schwierigsten Inhalte aus der Psychose hätte sie, vor allem während Klinikaufenthalten, nicht mit dem Personal geteilt. Das sei notwendig gewesen, um sich selbst zu schützen.
2015 und 2018 kam es jeweils noch einmal zu einem Klinikaufenthalt. 2015 riet man Mirjam, ein Medikament abzubauen, welches für einen durchschnittlichen Puls von 110, oft jedoch 130 verantwortlich war. Da im Dialogos regelmässig der Puls und der Blutdruck gemessen wird, war dem Team dieser Umstand bewusst und es schien naheliegend, dies während des Klinikaufenthaltes zu ändern. Auch wenn sich Mirjam aktiv mit diesen unerwünschten Wirkungen befasste, lehnte sie die Medikamentenänderung zu diesem Zeitpunkt noch ab. Sie brachte zu meinem grossen Erstaunen ein Album aus der Klinik mit, das ich bei ihr entdeckte. Wer wusste davon? Es zeigt Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge über dem Bodensee, den Frieden und die berührende Stille der Natur. Enten, die im Schilf schwimmen. Es sind Bilder, die auf eigenARTige Weise alle Sinne einbeziehen und berühren. Eine Sehnsucht klingt an, die sich das Herz wünscht, wenn es sich nach Ruhe sehnt.
2018 war Mirjam bereit, auf eine andere Medikation umzustellen. Von einem Tag auf den anderen seien ihre Selbstmordgedanken verschwunden, auch der Puls sei nun wieder komplett normal. Mirjam schreibt dies nicht ausschliesslich der Medikation zu, sie erzählt: «Es war mein Weg und es brauchte diesen Weg. Dass es mir besser geht ist ein riesiges Geschenk und harte Arbeit an mir selbst. Als ich mich 2018 erstmals mit der Erkrankung auseinandersetzte, las ich, dass alle Sinne in der Psychose betroffen sein können, dass ich Dinge wahrnehme, die andere nicht wahrnehmen. Ich kann verstehen, dass das, was ich erlebte nicht real ist, für mich jedoch real war. Und doch sind die Stimmen bis heute geblieben. Ich bin jederzeit verbunden. Ich kann sie jedoch zuordnen und sie sind nicht mehr bedrohlich. Ich brauche nach wie vor viel Ruhe, reinige gerne, bin mehrmals täglich im Park und bin im Atelier tätig. Im Lederatelier mache ich ein Portemonnaie und in der Krea nähe ich ein Necessaire, mache mir Schmuck oder habe Steine bemalt.»
Ich frage Mirjam, wie sie es geschafft hat, all die Veränderungen von Dialogos zu verkraften und wir denken an viele Menschen die in der Zwischenzeit gekommen und gegangen sind. Menschen, an die wir uns gemeinsam erinnern. Mirjam lächelt, denkt dann nach und meint: «Ich bin ein aufgeschlossener und freundlicher Mensch, das hilft mir mit den Mitmenschen im Dialogos. Trotz aller Veränderungen wollte ich nie wechseln. Im Dialogos bin ich glücklich. Du hast dich so oft für mich eingesetzt – ich bin schon sechs Mal intern umgezogen und habe schon unkonventionelle Lösungen erlebt.
Du hast dich schon mehrmals ins Zeug gelegt für mich und mir das kreative Arbeiten ermöglicht. Auf dem Foto ist eine Klangschale und eine Vase. Auch andere Sonderregelungen rechne ich dir hoch an und bin dankbar dafür. Du musst dann unbedingt schreiben, dass Dialogos wirklich gut auf uns schaut.»
Und ja, es stimmt, es war und ist mir immer ein besonderes Anliegen, dass Mirjam und alle anderen ihre Gaben, trotz all ihren Einschränkungen, bestmöglich leben können. Mirjam weiss, dass sie mit all ihren Anliegen zum Pflege- und Betreuungsteam kommen kann. Sie hat die Gewissheit, dass ihre Anliegen und Sorgen ernst genommen werden. Das ist für sie eine wesentliche Grundlage für die psychische Gesundheit und Stabilität, die sie heute erleben darf. Über manche Jahre waren Kontakte und Gespräche mit ihr im Rahmen von fünf bis zehn Minuten möglich, danach zog sich Mirjam zurück. Sie huschte flink davon, bedankte sich kurz für den Kontakt und signalisierte, dass es ihr zu anstrengend wurde. Ich frage sie, ob sie ihre Erkrankung zuordnen oder verstehen kann? «Den wahren Grund für meine Psychose kenne ich nicht. Als ich erstmals Stimmen hörte, empfand ich es nicht als notwendig, jemandem davon zu erzählen. Es wurde jedoch immer schlimmer. Ich hatte grössere Mühe mit Beziehungen umzugehen. Eigentlich ist es lustig, dass ich im Dialogos bin – hier geht es ja um den Dialog und um Beziehungen. Ich hatte damals einen Freund in Amerika – er verstarb 2008 an einer Hirnhautentzündung durch einen Zeckenbiss. Es würde zu weit führen, hier die ganze Geschichte zu erzählen. Wichtig ist mir, dass ich im Geist weiterhin mit ihm verbunden bin, Kontakt pflege und gewiss bin, dass er mir täglich auf meinem Weg hilft. Ich bin immer im Dialog mit ihm.»
Am herzlichsten Lachen wir beide, als ich Mirjam frage, ob sie ihren Anteil an Perfektionismus auch als Verhängnis sieht.
Sie meint: «Ich bin nur in der Keramik perfektionistisch veranlagt.» Worauf wir einander ansehen und das Lachen nicht zurückhalten können. «Nein, ich bin wohl auch sonst sehr genau.» Dabei erinnere ich Mirjam an ein Mandala, das sie mir
schenkte. Sie gestaltete ihre Mandalas mit feinsten Mustern selber. Dazu meint sie: «In den dunkelsten Stunden war dies
das Einzige, was ich tun konnte, um mich auf etwas anderes als meine Ängste zu fokussieren. Nach 20 Minuten musste ich
mich wieder hinlegen. Seit 2018 male ich kein Mandala mehr da ich die Ängste überwinden kann. Mein Ziel ist immer
noch, dass ich wieder eine eigene Wohnung haben und mit Spitex leben kann.»
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