oritz lebt seit Januar 2021 in einer Einzelwohnung, nachdem er im 2016 ins Dialogos in Stettfurt eintrat und dann zuerst in eine Aussenwohngruppe nach Frauenfeld wechselte. Mit seinen bald 57 Jahren meint er, dass er sich noch jung fühle, da er noch keine 500’000 Stunden alt sei.
Ich fragte ihn bei einem Besuch im April 2023, ob ich mit ihm für einen Jahresbericht austauschen dürfe. Nun öffnet er mir die Tür und erinnert mich, dass ich ihn am 4. April 2023 gefragt hätte. Mit seinem kalendarischen Gedächtnis kann er sich Geburts- und Todesdaten merken. Er weiss auch, welche Wochentage zu den Daten gehören, selbst wenn es weit zurückliegt. Dass er in einer Einzelwohnung leben kann entlastet ihn:
«Ich bin froh, dass ich die eigenen vier Wände habe und meine Zeit frei einteilen kann. Dass ich nicht mehr Rücksicht nehmen muss auf andere. Das war in der WG schwierig. Natürlich bin ich immer wieder einsam und meine Kontakte beschränken sich auf meine Eltern, ab und zu die Schwestern, den Psychiater und auf das Dialogos-Team. Eine Partnerschaft habe ich verpasst, es ist einfach nie aufgegangen.
Mein Elternhaus war ein behütetes Zuhause. Ich habe mich einfach schon als Kind besonders entwickelt. Während der ganzen Kindergartenzeit habe ich nicht gesprochen. Die Mitschüler der ersten Klasse waren erstaunt, dass ich überhaupt reden konnte. Sie hörten mich erstmals in der ersten Klasse. Das Strickjäcklein habe ich von meinem ersten Schultag aufbewahrt. Es ist eine Handarbeit von meiner Mutter und hängt in meinem Kleiderschrank. Am 22. April 2024 ist es 50 Jahre her, seit dem ersten Schultag. Ich kann vieles nicht wegwerfen da es mit Erinnerungen verknüpft ist. Überhaupt bin ich sehr sensibel und verletzlich. Vieles habe ich in meiner Fantasie verarbeitet. Manchmal war und ist dies mit viel Wut und aggressiven Inhalten verbunden.
Doch ich habe gelernt, mit diesen Gedanken umzugehen, auch wenn es immer wieder schwer ist. Leider habe ich vorwiegend schlechte Erinnerungen an die Schule und an die Lehrpersonen. Meine Unterstufenlehrerin mochte die Jungs nicht und betonte vor den Mädchen, dass sie nicht auf die Buben hören sollen. Positive Erfahrungen erlebte ich beim Logopäden. Leider starb er im Januar 1987 mit nur 47 Jahren. Ich lese meist die Todesanzeigen und behalte mir dir Daten im Kopf.»
Ich frage Moritz, was ihn mit den Teddys auf dem Kästchen verbindet. Moritz schreibt mir die Namen auf und erzählt: «Kazzkolo links ist der Vater von Thutuawuff in der Mitte. Diese beiden waren in meinem Spiel Vater und Sohn. Hans-Albert rechts auf dem Bild wurde von meiner Mutter genäht.»
Die Empfindlichkeit auf Reize und Geräusche und die hohe Sensibilität und Verletzlichkeit sind Themen, mit denen sich Moritz seit jungen Jahren auseinandersetzt. «Manchmal verlasse ich das Haus nicht und verzichte auf einen Einkauf, schiebe etwas hinaus, weil ich durch die Reize überflutet werde. Ich möchte keine Werbeplakate sehen. Diese ärgern mich. Auf Menschen, die alleine leben, wird in der Werbung zu wenig Rücksicht genommen. Nebst Erinnerungsgegenständen sammle ich alle Quittungen und sortiere sie nach dem Geschäft.»
Moritz sammelt nicht nur Quittungen, sondern viele Gegenstände und kann sich schwer von Dingen trennen. Er leidet unter diversen Zwängen, unter anderem Zähl-, Sammel-, und Kontrollzwänge. Geräusche können ihn irritieren, auch kennt er gedankliche Rituale und Zwangsgedanken zu Genauigkeit und Symmetrie. Er weiss, wie es ist, Angst zu haben, hat Sorgen, Dinge zu verlieren und erlebte regelmässig Verschlechterungen der Zwänge gegen Monatsende. Dies führte unter anderem schon in den Teenagerjahren zu Alkoholkonsum und später zu Depressionen.
«Mit dem Alkohol hatte ich die Möglichkeit, für kurze Zeit, meiner schüchternen Seite zu entfliehen und mich mehr zu getrauen. Und doch haben mir diese Jahre geschadet und sie gehören zur Vergangenheit. Es ist ein Kapitel, das ich am 6.01.2011 beendet habe. Damals hat mir mein Arzt geraten, dass ich mich ins Spital einweisen sollte, was ich dann befolgte. Seither bin ich trocken. Durch meine jetzige Situation habe ich weniger Druck von aussen und die Zwänge haben sich stark gebessert und nehmen weniger Raum ein. Manchmal musste ich Dinge berühren und abrupt stehen bleiben oder immer zurückschauen.
Nach dem KV-Abschluss erlebte ich im Arbeitsalltag viel Druck. Es gab ständig Änderungen und Unsicherheiten, denen ich ausgesetzt war. Dies war für mich verheerend und ich habe stark darunter gelitten. Ich reagierte mit Appetitlosigkeit, Freudlosigkeit und Schweissausbrüchen. Ich habe vermutlich knapp ein Magengeschwür verpasst, denn ich brauche zwingend Kontinuität. Zu meiner Kontinuität gehört zum Beispiel, dass ich runde Geburts- und Todesdaten abfrage und in Wikipedia Biographien studiere. Ich verfolge die Lebensgeschichten von Menschen. Vor allem die Päpste beeindrucken mich. Als Kind ging ich in die Messe und an Weihnachten wäre ich auch gerne gegangen, habe dann aber die Zeit verschlafen, da mein Tag-/Nachtrhythmus unregelmässig ist.
Im Verlaufe der Zeit haben mir vor allem die Antidepressiva, die langjährige Zuständigkeit, die Gespräche bei meinem Psychiater und die Unterstützung der Bezugsperson von Dialogos geholfen. Ich kann die Betreuung laufend an meine Bedürfnisse anpassen, habe die gleiche Bezugsperson und fixe Zeiten für Erledigungen und Besuche. Im Moment erhalte ich Unterstützung im Haushalt, bei der Reinigung und beim Entsorgen. Von den Zwängen ist lediglich das Haarewaschen ein Thema, bei welchem ich weiterhin froh bin um Übernahme, da ich sonst zu viel Zeit aufwenden muss.
Da ich nicht gern öffentlich reise, möchte ich als Abschluss erwähnen, dass es mir gelungen ist, mit viel Disziplin, zu sparen, obwohl ich ein bescheidenes Einkommen habe. Ich konnte 2021 einen 13-jährigen Cadillac CTS 4 kaufen. Das Auto bedeutet mir viel, hat allerdings 192’000 km und ich muss es vorführen. Leider kann ich mir das im Moment noch nicht leisten. Manchmal habe ich eine Tagesfahrt nach Frankreich unternommen oder habe andere Orte besucht. »
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