Murphy trat im September 2019 ins Dialogos in Stettfurt ein. Aktuell lebt er in einer betreuten Einzelwohnung in Frauenfeld.
Er wurde im Februar 1993 im Jemen geboren, dem Herkunftsland seines Vaters. Seine Mutter kommt aus Somalia. Nach einem schweren Unfall mit drei Jahren, bei welchem ihn ein Auto zweimal überfuhr, kam er 1999 in die Schweiz. Er war sechs Jahre alt und hatte bereits sieben Operationen hinter sich. Er war weiter auf medizinische Behandlung angewiesen und kam in Begleitung seiner Mutter und fünf Geschwister. Seinen Vater sah er seither nicht mehr. Murphy erzählt mir aus seiner Kultur. Schläge z.B.
würden solange zur Erziehung gehören, bis ein Kind einen Stock selber halten, bzw. sich wehren könne. Seine Mutter müsse sehr jung gewesen sein, als seine älteste Schwester auf die Welt kam. 1999 sei sie mit dem sechsten Kind schwanger gewesen. Die jüngste Tochter sei taub und schwer behindert. Sie sei so geboren und lebe nun in einer Einrichtung für behinderte Menschen. Die Mutter habe ihm die Schuld gegeben, da sie das Trauma seines Unfalls nicht verkraftet hätte und sich dies auf die Schwangerschaft ausgewirkt habe. Als ältester Sohn wurde von ihm erwartet, dass er die Rolle des Familienoberhauptes übernahm und für seine
Familie sorgte.
Als Murphy ins Dialogos eintrat, pflegte er keinen Kontakt mehr mit seiner Familie. Er hätte die Forderungen und Selbstverständlichkeiten nicht mehr ausgehalten und es sei ihm immer schlechter gegangen. An der letzten Weihnacht hätten sie
sich wiedergesehen. Seine Mutter habe schon einige Jahre einen Freund aus der Schweiz, sie sehe immer noch jung aus.
Murphy hatte aufgrund von Spitalaufenthalten im Kinderspital, im Unispital und im KSW häufig Schulabsenzen. Er kämpfte
mit seiner angeschlagenen Gesundheit und hat bis heute Eingriffe und Kontrollen, die ihm immer wieder zu schaffen machen. Einige Eingriffe hätten seine gesundheitliche Situation verschlimmert, er versuche klarzukommen und damit umzugehen, lehne aber weitere Behandlungen ab. Zwischen 2007 und 2017 habe er die Untersuchungen ignoriert. Er sei es müde gewesen und hätte diese ganze Sache abschliessen wollen. Erst 2017 hätte die KESB ihn dann aufgefordert, seine Termine wieder wahrzunehmen.
Im Schulalltag versuchte Murphy den Anschluss nicht zu verlieren, obwohl er immer wieder Mühe hatte, sich zu konzentrieren.
Um den Erwartungen der grossen Familie gerecht zu werden, erzählt mir Murphy, welche Jobs er mit 13 Jahren fand. Er wollte seinen Beitrag für den Unterhalt leisten. Begonnen hätte es mit Ferienjobs bei einer Druckerei, im Schützenhaus oder in der Spitalküche. Darauf hingewiesen, dass es nicht üblich ist, dass ein Kind in diesem Alter «erwerbstätig» ist, winkt Murphy ab und ignoriert meinen Einwand. Schmunzelnd ergänzt er noch, dass er sich einmal eine Playstation gekauft habe. Dann erzählt er:
«Weisst du, ich wollte auch haben, was meine Kollegen hatten. Ich litt seit den ersten Lebensjahren unter Armut und bei Schulbesuchen hätte ich mir gewünscht, dass meine Mutter auch kommt, da war ich immer alleine. Trotzdem war ich kein
Aussenseiter. Ich konnte nie nein sagen und habe allen geholfen, soviel ich konnte. Mir selbst konnte ich nicht helfen.
Vielleicht ist aus meinen Mangelerfahrungen meine spätere Kaufsucht entstanden. Ich entdeckte, dass ich auf Internetportalen
etwas bestellen kann und ich wollte ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sein. Für die Ferienjobs habe ich übrigens pro Woche zwischen 700 bis 800 Franken verdient. Meine Mutter wusste nichts von meinen Jobs. Ich gab ihr 400 Franken ab und behielt den Rest für mich. Meine Mutter gewöhnte sich schnell daran, dass ich ihr Geld nach Hause brachte und forderte dieses ein. Zu meinem Alltag gehörten auch die Hausarbeiten und Kochen für acht Personen.
2008 begann ich als DJ und legte in Clubs Musik, in denen man volljährig sein müsste. Es war nicht schwer, in diese Szene hineinzukommen. Zur gleichen Zeit begann meine erste Ausbildung. Ich kam in eine Jugend-WG und erlebte eine neue Welt. Die Last meiner Rolle fiel von mir ab, auch der ganze Lärm mit dem ich gelebt hatte. Ich begann als Autolackierer und mein Chef war mit meinen Leistungen sehr zufrieden. Leider hatte ich beim Go-Kart fahren einen Unfall und brach mir die Nase. Als ich mit einem Arztzeugnis auftauchte, wurde das Lehrverhältnis am gleichen Tag beendet, da mein Lehrmeister die Krankenabsenz von fünf  Tagen nicht tolerierte. Er zerriss das Zeugnis vor meinen Augen. Die Jugend-WG musste ich wieder verlassen, da dort
nur junge Menschen wohnten, die in einer Ausbildung sind. Ich vermute, dass ich im Herbst 2009 meine erste Depression
hatte. Ich hoffte, dass ich sterben würde, habe mit der Luft gesprochen und in die Leere gestarrt. Ich begann mit Alkohol trinken, um meine Sorgen zu vergessen. Es wurde jedoch schlimmer und half gar nicht. Wenigstens konnte ich eine halbe Stunde schlafen. Ich lebte wieder bei der Familie. Meine Mutter verlangte Geld und drohte mir, dass ich sonst raus müsse. So versuchte ich wieder Musik aufzulegen und zu jobben. In den nächsten dreieinhalb Jahren war ich Barkeeper und arbeitete bis zu 14 Stunden pro Tag. Danach arbeitete ich in einem Steakhouse. Ich gab die Hoffnung auf eine Ausbildung auf. 2016 wurde die KESB durch eine heimliche Meldung meiner Mutter, auf meine Vernachlässigung aufmerksam gemacht. Entweder hat sie sich Sorgen gemacht
oder wollte, dass ich wieder funktioniere und mehr Geld heimbringe. Den ersten KESB–Termin liess ich verstreichen, ich wusste nicht, was da auf mich zukam. Dann rief die Chefin selbst an und klärte mich auf, dass ich einen Beistand bekommen würde und was dies bedeutete. Davon hatte ich noch nie gehört. Ich staunte, dass es so etwas gibt in der Schweiz. Woher wusste sie denn, dass
ich das brauche? Es war als würde ein Wunder geschehen.
So ging ich also zum Termin. Ich hatte erste Termine beim Psychiater und konnte ein Belastungstraining machen in Zusammenarbeit mit der IV. Ich durfte anschliessend noch zweimal in einer betreuten WG leben, wollte mich aber im März 2018 wieder ablösen und ganz selbständig leben. Wenn ich mit Menschen nicht klarkomme, möchte ich alleine sein. Wenn ich alleine bin, wird es zu ruhig und ich fühle mich einsam. Ende 2018 trat ich erstmals in die Klinik ein. Ich war in Kilchberg und danach in der Clienia Littenheid AG. Der Aufenthalt auf der Therapiestation Pünt Nord hat mir sehr gut getan, denn ich hatte mich sozial
zurückgezogen und litt wieder unter Depressionen und Alpträumen. Ich trank vermehrt grössere Mengen Alkohol und konnte dem Druck der IV-Beratung nicht mehr standhalten. In der Klinik lernte ich viel über mich und wurde auf meine Schutzmauern aufmerksam gemacht. Es wurde eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert.»

Nach der Klinik lebte Murphy nochmals wenige Monate in der eigenen Wohnung und trat im Juli 2019 ins Dialogos ein. Trotz aller Niederlagen, entschloss er sich, 13 Jahre nach dem ersten Anlauf, nochmals eine Lehre in Angriff zu nehmen.
Im März 2020 konnte er in einer zweiwöchigen Schnupperlehre im Restaurant La Terrasse vom Stift Höfli in Frauenfeld einen guten Einblick gewinnen. Er überwand seine Unsicherheit und bewarb sich, nach ermutigenden Worten von der Teamleitung, um einen Ausbildungsplatz. Dies setzte er selbständig und zielstrebig um. Er koordinierte sein Anliegen erneut mit der IV und mit seinem Beistand. Da er beim Schnuppern einen guten Eindruck hinterliess, wurde ihm die Lehre zum Praktiker PrA Restauration zugesagt. Im August 2020 konnte er nach einem Praktikum mit der Lehre beginnen und zeigte von Anfang an grosses Interesse und Engagement für diesen Beruf. Er hat sichtlich Freude seine Hausaufgaben zu machen. Was er neu gelernt hat, wendet
Murphy an. Wie z. B. Backwaren herzustellen und Kostproben zu verteilen. Es erfüllt ihn mit Stolz und Freude, wenn er positive
Feedbacks erhält. Dass er seit dem Oktober 2020 in einer betreuten Einzelwohnung lebt, war für ihn ein weiterer Meilenstein.
Murphy führt einen tadellosen Haushalt und kocht leidenschaftlich gerne. Sein ausgesprochenes Flair für’s Einrichten ist auffallend, auch sein Sinn für Ordnung und Sauberkeit. Seine freundliche, hilfsbereite Art und sein lebendiges und humorvolles
Wesen sind ansteckend. Dass er seine Schwachstellen benennen kann und an seinen bestehenden Schwierigkeiten arbeiten möchte ist für die Zusammenarbeit eine wertvolle Grundlage. Die Auswirkungen seines kulturellen Hintergrundes und seines Flüchtlingsstatus werden ihm mit jedem Jahr bewusster. Zum Abschluss sagt Murphy: «Beziehungen und Vertrauen sind sehr wichtig für mich. Ich brauche ehrliche Menschen. Manchmal habe ich einfach Geschichten erzählt, um von unangenehmen Themen abzulenken. Ich wollte sozusagen eine falsche Fährte legen. Das wurde mir erst langsam bewusst. Wenn man Fehler
macht, braucht es Entschuldigungen».