Aaron wurde im Januar 1985 geboren, er wuchs mit einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester auf. Sein Leben sei mit den üblichen Kinderstreitereien bis zum Abschluss der Schuljahre unauffällig gewesen. Die Eltern trennten sich in seinen frühen Teenagerjahren. Auch mit diesem Umstand fand er einen Umgang. Er betont, wie sehr er die guten familiären Beziehungen zu seinen Eltern und Geschwistern schätzt.
«Mit 16 Jahren habe ich eine KV-Lehre gemacht, die ich mit 19 Jahren abgeschlossen habe. Zwischen 15 und 16 habe ich mit Kiffen und Alkohol begonnen, später kam Kokain dazu. Ich war neugierig und war gerne auf Beizentouren dabei. Nach der Lehre arbeitete ich sechs Jahre im Betrieb meines Vaters. Die zwei letzten Jahre war ich krank. Ich erlebte damals meine erste Panikattacke, auf dem Weg zu einer Erledigung. Ein Ohnmachtsgefühl hat mich überwältigt, so dass ich dachte ich werde sterben. Ich konnte noch nicht mal das Notfalltelefon wählen, da mein Puls in die Höhe schnellte und ich das Handy vor lauter Zittern nicht mehr halten konnte. Dieses Erlebnis kam für mich aus dem Nichts.
Ich kontaktierte meinen Vater, doch er realisierte meinen Zustand nicht. Irgendwie kam ich zum Notfallarzt, welcher mir ein Beruhigungsmittel spritzte. Angst ist etwas, das sich entwickelt. Bei mir war es eine Mischung aus Angst und Psychose.
Die Psychose fragt: wer bin ich, was mache ich hier? Ich hatte zwar keine Stimmen, stelle mir das aber schrecklich vor, wenn Stimmen dazukommen. In diesem Zustand wusste ich nicht mehr ob ich krank oder gesund bin. Ein Psychiater meinte später, dass ich mit Medikamenten gesund sei, ohne Medikamente krank. Im Moment fühle ich mich gesund. Ich kann viel selber dazu beitragen – ich darf einfach nie aufgeben. Rauschzustände ertrage ich nicht mehr. Ich entwickle dann wieder Ängste und das ist alles andere als ein Genuss. So kam ich erstmals für drei Monate in die Klinik in Münsterlingen, auf die Frühpsychosenstation. Ich war psychotisch, verwirrt, aber nie aggressiv. Ich erinnere mich, dass ich einmal raus wollte und man mich hinderte und mir dann erstmals ein Temesta gab. Das ist ein Medikament mit hohem Suchtpotenzial, welches schnell wirkt und zur Entspannung dient. Als Nebenwirkung lief mir der Speichel runter, eine beschämende Tatsache, die ich nie vergesse. Später sollte dieses Medikament seine weiteren Tücken zeigen und führte in eine neue Abhängigkeit. Nach vielen Jahren habe ich nun einen guten Umgang damit gefunden. In der Klinik hielt man mich immer wieder für einen Mitarbeiter, anscheinend machte ich einen seriösen Eindruck. Mit der Zeit kam es durch meinen Lebenswandel zu weiteren Klinikaufenthalten und jeder Aufenthalt wurde länger. Die Liste meiner Diagnosen nahm zu, sie beinhaltet Schizophrenie, Sucht- und Angsterkrankungen. Dieser Verlauf führte aufgrund der langen Krankheitsphase zu einer IV-Rente.»
Der vorletzte Klinikaufenthalt dauerte ein Jahr und Aaron war zuerst auf der Alkoholentzugsstation und wechselte dann auf die Drogenentzugstation. Dort brach die Psychose so richtig aus, dicht gefolgt von schweren Depressionen. Umgeben von absoluter Sinnlosigkeit hatte er es kaum geschafft, zwei Minuten an die frische Luft zu gehen. An der Grenze des Unaushaltbaren kontaktierte er einen Kollegen und bat ihn, Drogen zu bringen. Es kostet ihn Überwindung, Themen offen anzusprechen, die im Verborgenen waren und auf die er keinesfalls stolz ist. Natürlich wurde der Konsum entdeckt und Aaron wurde zur Rede gestellt. Er entschied sich für den sofortigen Austritt und ging wieder alleine in seine Wohnung. Kein guter Entscheid, denn die folgenden zwei Jahre hielt er sich mit Alkohol, Kiffen und Kokain über Wasser. Ohne drei bis vier Dosen Bier am Morgen getraute er sich nicht unter Leute. Die Versicherungsleistungen wurden gestoppt und die Sozialhilfe wurde zuständig. Der Sozialarbeiter ermutigte ihn, seine Probleme anzugehen.
Dann erinnert sich Aaron an einen Schlüsselmoment, in welchem er mit seinem Bruder am See sass. Der Bruder sagte: «Du musst eine Entscheidung treffen, entweder wirst du alleine sein oder du lässt dir wirklich helfen und änderst etwas.»
«Ich nahm mir seinen Rat zu Herzen und ging zum Hausarzt. Es kam zu meinem letzten, langen Klinikaufenthalt vor neun Jahren. Ich sprach dort über meine Ängste – wobei mir nicht geglaubt wurde. Das Personal ging von einem Überbleibsel der Psychose aus. Persönlich sehe ich das anders. Ich habe bei stressigen Situationen in der Ausbildung und bei der anschliessenden Anstellung immer wieder Ängste entwickelt. Angst kommt aus einer Überforderung. Ich war bei der Arbeit oft überfordert, auch während der Ausbildung. Ich schwänzte die Schule und fehlte 43 Lektionen ohne Entschuldigung. So konnte ich dem Unterricht nicht lückenlos folgen, was wiederum Stress bedeutete – wenn auch selbst verursacht.»
Nach einigen Monaten in der Klinik nahm der Sozialarbeiter im Juli 2013 Kontakt mit Dialogos auf und bat um einen aufsuchenden Erstkontakt in der Klinik anstelle eines Vorgesprächs in Stettfurt. Er habe einen Patienten, der nicht vorbeikommen könne. Der Sozialarbeiter warnte im Vorfeld, dass ich den Weg möglicherweise für ein fünfminütiges Gespräch leiste. Ein längeres Gespräch sei für Aaron nicht möglich. Wichtig war, eine Perspektive in Aussicht zu stellen und eine betreute Wohnform zu finden.
Im Februar 2014, also sechs Monate später, gelang der Übertritt nach Stettfurt. Aaron blieb für vier Jahre in Stettfurt und
lebte anfangs mehrheitlich zurückgezogen. Eine Tagesstruktur war nicht vorstellbar. Aarons Zustand war weiterhin reduziert auf wenige Kontakte und Aktivitäten. Das Haus konnte er nicht verlassen, keine Einkäufe tätigen und kaum Aussenkontakte pflegen. Sogar Ämtlis waren anfangs nicht möglich. Er war jedoch entschlossen, dass er sich von seiner Krankheit erholen wollte und kämpfte unermüdlich weiter. Aaron wartete geduldig und bewundernswert zuversichtlich auf seine Besserung. Mit der Zeit konnten längere Gespräche geführt werden. Er spielte wieder Gitarre, auch im öffentlichen Essraum und baute Beziehungen auf. Er fasste zunehmend Vertrauen in die Bezugsperson, das Team und die Mitbewohnenden.
Zum Jahresbeginn 2018 wurde neu eine Nachtwache statt Pikettdienst geplant. Als Aaron dies erfuhr, war er davon überzeugt, dass er dies nicht brauche. Ich ermutigte ihn, sich Gedanken für einen Wechsel in eine Stadtwohnung zu machen. Im Februar 2018 entschied er sich, diesen Schritt zu wagen und zog nach Frauenfeld um. «Ich konnte die sozialen Ängste immer mehr ablegen und mich zunehmend freier bewegen. Ich war gezwungen, wieder einkaufen zu gehen, den Haushalt zu führen und mehr Verantwortung zu übernehmen. Das Zusammenleben war kein Problem – in Wohnungssitzungen wurden die Aufgaben besprochen.»
Die nächsten Schritte folgten im Juni 2021. Seither lebt Aaron in einer Einzelwohnung. Bei allen Schritten genügten kleine Aufforderungen. Nach acht Jahren Dialogos wagte sich Aaron, eine externe Tagesstruktur aufzubauen und einen geschützten Arbeitsplatz mit Teilzeitpensum aufzusuchen. Sein Beziehungsumfeld nahm in den Jahren zu und er pflegt in grosser Verlässlichkeit Kontakte, auch mit ehemaligen Dialogos-Klienten. Seine Familie, insbesondere die regelmässigen Besuche seines Vaters, haben ohne Zweifel viel beigetragen zu seiner Genesung. Zeiten mit seinen Geschwistern und Neffen geniesst er sehr. Angehörige sind und bleiben enorm wichtig. Das heutige Gespräch mit Aaron zeigt einen anderen Menschen als vor neun Jahren.
Er ist eine offene, kontaktfreudige und ausgeglichene Persönlichkeit. Es fällt ihm leicht, mir redegewandt aus der Vergangenheit zu erzählen und er offeriert mir einen Snack und Getränke in der Wohnung. Die Atmoshäre ist entspannt und heiter. Er zeigt mir ein weiteres Hobby, die Wartung von PC-Servern. Aaron kann sich Wissen gut im Eigenstudium erschliessen. Seine Instrumente schmücken den Eingangs- und Wohnbereich. Auch das Gitarre spielen habe er sich selber beigebracht, um sie dann immer für die agerfeuer und Pfadievents bereit zu haben.
Immer wieder kümmert sich Aaron um andere. Manchmal treffe ich ihn in der Runde in Stettfurt an, wie er ein ermutigendes Beispiel ist und anderen zuredet, nicht aufzugeben. Er erzählt mir, wie dankbar er sei für seine Besserung. Und ja, die Herausforderungen bleiben, auch die Gefahr, sich in guten Zeiten zu überschätzen. Dann sei es wichtig, sich mit seiner Bezugsperson auszutauschen, die ihn über viele Jahre betreut. Er wolle dranbleiben und nie mehr solche Angstzustände erleben. Nach dem ersten Gespräch fahren wir gemeinsam zum Bahnhof und Aaron holt sein GA, ein mittlerweile realisierter Wunsch, ab. So schreibt er mir vor wenigen Tagen, er sei zum ersten Mal in Bern gewesen. Im Fall von Aaron hat sich die Wohnform zweimal verändert und er erlebte dadurch weitere Fortschritte. Aaron war und bleibt entschlossen, anderen Mitmenschen weiterhin Mut zu machen. Eine solche Entwicklung war bei Aarons Eintritt undenkbar. Ich staune über das Wunder der Zeit, über die echte Freude von Aaron und über seine buchstäblich wiedergefundene Lebensqualität. Über das Wenige, was wir tun können und das Grosse, was entstehen darf, wenn Zeit und Raum ihre Wirkung entfalten.
Über das Titelbild sagt Aaron: «Das Bild gefällt mir. Man sieht die grossen Wurzeln, die Birke, das Wasser und die Sonne. Es ist ein beruhigendes Bild.»